"Die Oase" von Mario Schumann

"Die Oase" von Mario Schumann

Es war ein heißer Tag. Peter Stafford, groß, hager, mittleren Alters, stand vor seinem Zelt und blickte, mit der Hand seine Augen vor der Sonne schützend, die schon am Morgen so stark strahlte, wie in seiner Heimat nur an den wärmsten Sommertagen im Juni, in den Himmel. Nicht eine Wolke war zu sehen und der Himmel war so blau und rein wie die Flamme eines Gasbrenners. Um ihn herum: Wüste. In jede Richtung tausend Meilen nichts als Sand, Trockenheit und Wind. Die Eingeborenen nannten diese hunderte von Quadratmeilen Sand und Knochen „“ was soviel hieß wie „Helles Leben“ und für die meisten von ihnen war es wie für die Generationen vor ihnen der Ort an dem sie geboren wurden, lebten und starben. Für Peter Stafford war es nur eine Wüste, ein unbequemer, lästiger Ort, wo Wasser kostbarer als Gold war, tags die Hitze wie im Backofen brütete und nachts die eisige Wüstenkälte in die Schlafsäcke kroch. Und doch sollte dieser ort für ihn der seines größten Triumphes werden, denn es war Frühjahr in der „“ und heute begann wie jedes Jahr das große Wüstenrennen, das hunderte von Meilen bis ans andere Ende der Wüste reichte. Wie lange hatte auf diesen Tag gewartet!
Schon als Kind als er in schlecht gemachten Groschenromanen von den wilden Cowboy Rennen der Vergangenheit las, von Hidalgo dem berühmten Mustang und seinem Besitzer, der hunderte von Rennen mitgemacht hatte, da träumte er davon selber auf einem pfeilschnellen Pferd über endlose Weiten zu reiten, jeden seiner Konkurrenten zu überholen und als gefeierter Sieger ins Ziel zu gelangen. Aber diese Pferderennen gehörten schon lange der Vergangenheit an und so verblassten diese sehnsüchtigen Kinderträume mit der Zeit langsam und als Jockey mit einem Pferd immer und immer wieder im Kreis zu jagen, das kam für ihn nicht in Frage. Er wollte den Reiz des Abenteuers auf seiner Zunge spüren, er wollte etwas Großes, Außergewöhnliches tun, er wollte den Rausch der Geschwindigkeit immer wieder neu erleben, er wollte die Herausforderung, das Erlebnis. So reifte in ihm ihn der Entschluss Rennfahrer zu werden. Nicht das ihn dieser Beruf sonderlich faszinierte, auch die wilden Zeiten des Autorennens waren vorbei, die Strecken, zwar nicht kreisförmig, aber alle ausgebaut, befestigt reglementiert. Und die wenigen „Landschaftsrennen“, wie er sie nannte, durch Gebirge oder Wälder, stillten seinen Durst nach Abenteuer kaum. Aber er hatte einen Traum: einmal beim großen Wüstenrennen teilzunehmen und zu gewinnen. Dieses Rennen, das alljährlich in der großen Wüste „“ stattfand war für ihn das große Wagnis und die Herausforderung seines Lebens, das Abenteuer, auf das sich all sein Streben und Sehnen richtete. Schon vor jahrhunderten waren die Reiter der arabischen Halbinsel zu diesem Rennen aufgebrochen, um sich und ihre Pferde mit den Besten zu messen. Diese lange Tradition des einstigen Pferderennens, das heute durch Automobile bestritten wurde, ließ ihn mit Wehmut an seine einstigen Kindheitsträume erinnern. Und so begann er, all seinen Ehrgeiz auf dieses Ziel gerichtet, seine Rennfahrerkarriere. Verbissen kämpfte er um jeden Sieg, jeder Kilometer den er zurücklegte brachte ihm seinen Traum näher und näher. So wurde er immer besser, Sieg folgte auf Sieg, seine Anerkennung in diesem Sport wuchs und heute, heute stand er endlich in jener Wüste, heute sollte endlich jenes Rennen beginnen, von dem er jahrelang geträumt und auf das er hingearbeitet hatte. Er hatte es geschafft.
Endlich.
Bis zum Beginn des Rennens blieben noch ein paar Stunden und so traf er die letzten Vorbereitungen, inspizierte seine Ausrüstung noch ein letztes Mal und ging die Rennstrecke noch mal auf der Karte durch. Dank seiner Berühmtheit als Rennfahrer hatte er einige zahlungskräftige Sponsoren, die sich von einem guten abschneiden im Rennen eine gute Publicity erhofften und dementsprechend hatte er auch die beste Ausrüstung die es gab. Er hatte sich monatelang auf diesen Tag vorbereitet, hatte alles studiert was es über das Rennen, die Strecke und die Wüste zu lesen gab und fühlte sich bereit für den Start. Ganz anders als er immer dachte, war er nicht sonderlich aufgeregt, nicht mehr als vor jedem anderen Rennen. Und je näher der Startschuss kam, desto ruhiger wurde er und als er schließlich hinter seinem Lenkrad saß und auf den Start wartete, in einer Reihe mit einigen wenigen anderen, alle samt die besten ihres Standes, da war er von einer inneren Ruhe erfüllt, die er noch nie erlebt hatte. Er war jetzt voll konzentriert und entspannt und als es nur noch wenige Sekunden des Wartens waren, formte sich unwillkürlich ein Lächeln auf seinem Gesicht: das, wofür er sein ganzes Leben lang gekämpft hatte, begann jetzt, unweigerlich und unaufhaltsam. Niemand und nichts konnte ihn mehr davon abhalten.
Dann gab er Gas...
Stunden waren bereits seit dem Unfall vergangen. Mit Vollgas war er über eine Sanddüne gefahren, doch er hatte sich verschätzt: da er noch nie in einer Wüste gefahren war, vergaß er für einen Moment das er die Luv Seite der Düne hinaufgefahren war und stürzte Sekunden später 15 Meter in die Tiefe. Es war eine besonders große Sanddüne gewesen, die nur leicht anstieg, deshalb hatte er sie unterschätzt. Und nun irrte er schon Stunden durch die Wüste, ohne Wasser, denn sein Wagen überschlug sich mehrmals und die Wasserkanister, sowie fast alles andere, wurden bei dem Aufprall zerstört. Wie durch ein Wunder war er bis auf ein paar Schrammen und Prellungen unverletzt geblieben. Doch die Hitze brannte erbarmungslos auf ihn nieder und trübte seine Augen, das er die Karte und den Kompass nicht mehr erkennen konnte und nicht wusste wohin er gehen sollte. Aber das war eigentlich sowieso egal, er wusste, ohne Wasser hatte er kaum eine Chance, wenn ihn nicht zufällig jemand aufgabelte. So ging er ziellos immer weiter, seine Gedanken flossen nur zäh durch die Hitze und schließlich brach er entkräftet zusammen. Sein Bewusstsein glitt langsam immer weiter davon und seine letzten Gedanken waren, das er nun niemals mehr das Rennen beenden würde, das er all seine Zeit vergeudet hätte und nun im nirgendwo zugrunde gehen würde. Nichts war aus seinem Traum geworden, er war zerplatzt wie die Wasserkanister, deren Inhalt die Wüste so gierig aufgesogen hatte. Wie gerne hätte er..., doch sein Geist verschwand in weiter Ferne und es wurde dunkel um ihn.
Aus.
Es war dunkel als er aufwachte. Über ihn schien der Vollmond und tauchte alles in ein fahles Licht. Tausende und abertausende von Sternen standen am Firmament und es schien ihm als wären sie nie so deutlich gewesen wie in diesem Moment. Langsam richtete er sich auf und ein sanfter Wind strich über ihn hinweg. `Wo bin ich?`, fragte er sich, `Bin ich tot?` Er blickte sich um, aber im fahlen licht des Mondes konnte er nicht viel erkennen, er sah einige Bäume, Palmen bestimmt, sich im Wind wogen, ein paar Sträucher und eine glitzernde Oberfläche die im Mondlicht glitzerte und die Wasser zu sein schien. `Eine Oase`, dachte er, da bemerkte er die Gestalt neben sich. Verwundert starrte er sie einige Zeit an und als er eben den Mund öffnen wollte da legte sie ihm die Hände über die Augen und er spürte wie er zurück sank und in einen tiefen Schlaf fiel. „Schlaf, du bist müde“, hörte er noch eine Stimme bevor sein Bewusstsein in einen traumlosen Schlaf dämmerte. Als er wieder erwachte war es bereits helllichter Tag. Zuerst lag er nur da und fragte sich wo er sei, doch nach ein paar Sekunden kam die Erinnerung wieder, an das Rennen, den Unfall, an die letzte Nacht. Er stand auf und sah sich um, ja, er war wirklich in einer Oase, da standen ein paar Dattelpalmen, einige kleine Sträucher und Gras in saftigen Grün und in der Mitte ein kleiner See mit klarem Wasser. `Also bin ich noch nicht tot` dachte er. `Aber wo bin ich? Wie kam ich hierher?` Eine Fata Morgana schien es nicht zu sein, denn er konnte das Gras unter seinen Füßen herausrupfen und fühlen. `Da war doch jemand neben mir in der Nacht. Bestimmt haben mich ein paar Eingeborene gefunden und hierher gebracht. Doch wo sind sie?` Da sah er, als er sich umblickte, eine kleine Hütte zwischen den Palmen am anderen Ende des kleinen Teiches und neben der Hütte einen Menschen. Also ging er zu der Hütte um mit der Person zu reden. Als er bei ihr war erkannte er dass es eine Frau war, denn sie war, wie bei den Eingeborenen hier üblich, verschleiert. Sie schien auf ihn gewartet zu haben denn als er zu ihr ging, blickte sie ihn die ganze zeit an und als er endlich angekommen war konnte er von ihrem Gesicht nur ihre unbedeckten Augen sehen, die so rein und klar waren wie der kleine See in dem sich die Sonne spiegelte.
„Entschuldigen sie“, sprach er sie an, „wo bin ich hier?“
“Bei mir“, antwortete sie.
Er wunderte sich nicht einmal darüber das sie seine Sprache beherrschte.
„Aber wie bin ich denn hier gekommen?“
„Allein. Du warst plötzlich hier, dein Weg hat dich wohl hierher geführt. Willst du etwas trinken? Du musst durstig sein.“
„Aber irgendwie muss ich doch hierher gekommen sein, es war weit und breit keine Oase in der Nähe. Haben sie mich hierher gebracht?“
„Hier, trink. Das Wasser ist frisch, es wird dir gut tun, du musst großen Durst haben.“
In der Tat war er so durstig das er beim Anblick des klaren Wassers all seine Fragen vergaß und das angebotene Wasser nahm um zu trinken. Als sein Durst gestillt war, schwieg er einen Moment und betrachtete seine Gastgeberin genauer. Sie trug die typische Kleidung der Wüstenbewohner und er schätzte anhand ihrer Augen, die ihn unentwegt ansahen und die wie er meinte, wunderschön waren, dass sie jung war.
„Wie heißt du?“ fragte er.
„“, antworte sie.
„Lebst du hier allein?“
„Du bist doch bei mir, also sind wir zu zweit. Komm, du hast bestimmt auch großen Hunger.“
Sie bedeutet ihm in ihre Hütte zu folgen, die ihm innen viel größer erschien als er von außen vermutet hatte. Da standen einige Schüsseln mit Datteln, gebratenen Fischen und selbstgebackenen Brot und da er wirklich großen Hunger hatte, fing er gleich an zu essen bis er satt war. Währenddessen schaute sie ihn wieder unentwegt mit ihren großen, klaren Augen an. Als er fertig war fing er wieder an sie zu fragen:
„Lebst du hier wirklich allein?“
„Ich lebte allein bist du kamst, ja.“
„Und was machst du ganz allein hier draußen?“
„Ich lebe, ich ernte die Datteln, schütze das Gras mit Hecken vor dem Sand, pflanze Korn für das Brot, schaue in das Wasser und den Himmel und lebe. Es ist schön hier, hier habe ich alles was ich brauche. Was machst du denn hier?“
„Ich habe mich verlaufen...“
„Und jetzt suchst du einen Weg nach Hause.“
„Genau. Weißt wie ich von hier in ein Dorf oder in eine Stadt kommen kann?“
„Musst du denn fort von hier?“
Ja, musste er denn fort? Das Rennen war für ihn gelaufen. Vielleicht konnte er nächstes Jahr noch einmal teilnehmen, aber das würde ihm viele Anstrengungen kosten, vielleicht würde es auch erst in ein paar Jahren wieder klappen. Vielleicht... Er war plötzlich nicht mehr so entschlossen wie er es sonst gewesen war. Oder war er es nur scheinbar gewesen? Ja, warum sollte er fort von hier? Er war verwirrt, von den Augen der Frau die unablässig auf ihn ruhten und von ihren rätselhaften Antworten.
„Nun...ich denke, wenn ich eine Weile hier bleibe um mich auszuruhen...“
Da lächelte die Frau, die ihm plötzlich so seltsam vertraut vorkam, jedenfalls glaubte er es, denn er sah ja nur ihre Augen und die schienen ihm zu lächeln.
Waren es Tage, Wochen, Monate? Er hatte kein Zeitgefühl wie lange er bei der Frau in ihrer kleinen Oase war, die Zeit floss dahin die er mit ihr verbrachte. Er half ihr bei den Arbeiten so gut er konnte und unter ihrer Anleitung und wenn nichts zu tun war sprachen sie miteinander über allerlei Dinge und noch immer verwunderten ihn ihre sonderbaren Antworten. Doch manchmal sahen sie sich einfach nur in die Augen und er vermochte nicht zu sagen ob es Sekunden, Minuten oder gar Stunden waren. So floss die Zeit dahin und niemals spürte er Langweile, immer gab es etwas zu entdecken und zu tun, ob es ein Käfer war der über ein Blatt kroch, die Gespräche mit seiner „Freundin“, wie er sie im Stillen nannte oder wenn sie gemeinsam schweigend in das stille Wasser des Sees blickten und den Fischen bei ihrem treiben zusahen. Eines Tages, als es ihm schien als ob die sonne besonders dunkel strahle, das gras nicht so grün und saftig wie sonst aussah und das Wasser des kleinen Sees trüber und aufgewühlter war als vorher, sagte sie ihm das er gehen müsse.
„Es ist Zeit, du musst jetzt gehen.“
Er erschrak.
„Gehen? Wohin soll ich denn gehen? Ich möchte bei dir bleiben. Hier hab ich alles was ich brauche.“
Und tief in seinem Herzen flammte die Liebe zu dieser Frau auf, deren Gesicht er noch nie gesehen hatte, von der er nur ihre zwei strahlenden Augen kannte.
„Hab keine Angst, wenn du wirklich willst dann wirst du wiederkommen und dann werden wir zusammen sein.“
„Aber wohin soll ich denn gehen? Ich habe doch nichts außer dich und diesen Ort!“
Und so sehr er sich auch wehrte, in seinem Inneren spürte er das sie Recht hatte und er nun Abschied nehmen musste, so sehr er sich dagegen auch wehrte.
„Ich werde wiederkommen und dann kann uns nichts mehr trennen. Aber bevor ich gehen muss, lass mich wenigstens einmal dein Gesicht sehen, damit ich dich wieder erkenne wenn ich dich suche.“
Und da sie nicht antwortete nahm er ihr langsam ihren Schleier ab, doch da riss ihn ein starker Strudel plötzlich von ihr weg, alles vor seinen Augen verschwand und ein zäher, dunkler Schmerz legte sich auf seinen ganzen Körper. Und bevor sein Bewusstsein entglitt, sah er noch für Bruchteile ihr Antlitz vor sich, das sich ihm tief einprägte und das er nie in seinem Leben vergessen sollte...
Zwei Wochen dauerte es bis er sein Bewusstsein wiedererlangte. Man erzählte ihm, Einheimische hätten ihn in der Wüste gefunden, aufgenommen, notdürftig versorgt und in die nächste Stadt in ein Krankenhaus gebracht. Zwei Tage und zwei Nächte hatte er nach seiner Berechnung in glühender Hitze und eisiger Nachtkälte in der Wüste gelegen, ein Wunder sagten die Ärzte, das er überhaupt überlebt hatte. War alles nur ein Traum gewesen? Waren es nur Fieberphantasien, entstanden durch Wassermangel, Hitze und Kälte? Lange grübelte er darüber nach und er erzählte keinem davon, aber die Erinnerungen an seine Zeit in der Oase blieben so lebendig und frisch als hätte er sie erst vor kurzem verlassen. Als er nach einiger Zeit wieder in seiner Heimat war, fühlte er sich dort nicht mehr zu Hause. Sein einstiger Traum, seine Sehnsucht war verblasst, wie eine ferne Erinnerung. Er hatte kein Interesse mehr an seinem damaligen Leben, das ihm nun fremd und öde vorkam. Was hielt ihn hier noch? Was wollte er hier? Und so fasste er einen Entschluss: er verkaufte alles was er besaß, regelte seine wenigen Angelegenheiten und kehrte in die Wüste zurück die die Eingeborenen „Helles Leben“ nannten um den Ort zu finden wo er hingehörte, um die Oase zu finden, um sie zu finden, die er nie mehr vergessen konnte.

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